Ist tierisches Protein so gefährlich wie Rauchen?

Ernährungswissenschaft ist sehr verwirrend. Erst ist Protein “gut”, dann ist Protein auf einmal “schlecht”. Auf vielen Seiten findest du gerade die Meldung, dass eine “hohe Eiweißzufuhr so schlimm sei wie Rauchen”.

Examine.com hat ebenfalls eine Analyse herausgebracht: Examine.com – High-Protein Diets Linked to Cancer: Should You Be Concerned?

Die Artikel titeln:

“High-protein diet ‘as bad for health as smoking’” – Telegraph

Einer der Forscher wird zitiert:

“We provide convincing evidence that a high-protein diet – particularly if the proteins are derived from animals – is nearly as bad as smoking for your health.” – Dr Valter Longo

Oder: Fleisch- und Käse-Essen so gefährlich wie Rauchen?

Den Originalartikel aus “Cell Metabolism” findest du hier:

Stimmt das wirklich? Oder ist das nur eine irreführende Aussage?

Die Forscher empfehlen basierend auf ihrer Untersuchung eine Proteinzufuhr um 0,8 g/kg täglich. Ein 70-kg-Mann würde damit nur 56 g Protein am Tag zu sich nehmen. Da wir starke Verfechter einer höheren Proteinzufuhr sind (je nach Kontext 2 g/kg und mehr), wollen wir hier kurz erläutern, was diese Studie tatsächlich aussagt.

Direkt vorweg: Aus den Ergebnissen dieser Studie eine solche Behauptung abzuleiten, ist nicht möglich. Wie so oft wurden die Ergebnisse dieser Untersuchung viel zu stark extrapoliert.

Was sind die wirklichen Ergebnisse der Studie? Was wurde in der Studie gemacht?

Die Studie besteht eigentlich aus 2 Untersuchungen. Zum einen wurden eine epidemiologische Analyse basierend auf NHANES III Daten durchgeführt. Zum anderen wurde eine kontrollierte Mausstudie durchgeführt.

Die epidemiologische Untersuchung

Die NHANES III Daten wurden via “24h-Recall” erhoben – d. h., die Probanden sollten über 24h aufschreiben, was sie gegessen hatten, um ein Bild ihrer Ernährungsgewohnheiten zu bekommen. Die Ernährungsgewohnheiten von 6381 über 50-Jährigen wurden analysiert (Durchschnittsalter 65) und 18 Jahre später anhand des Nationalen Todesverzeichnis (US National Death Index) Mortalität (Sterberate) und Todesursache bestimmt. 40 % der Teilnehmer waren zu diesem Zeitpunkt (offiziell) verstorben. 19 % (d. h. fast die Hälfte) starben an koronaren Herzkrankheiten (dt. Wikipedia), 10 % starben an Krebserkrankungen und die verbleibenden 1 % starben an Diabetes.

Wie du dir es wahrscheinlich schon denken kannst: Diese Form der Datensammlung ist zum einen recht ungenau (subjektiver Eindruck der Probanden ihrer Ernährung). Zum anderen ist es wahrscheinlich, dass die Probanden ihre Ernährung im Laufe der letzten 18 Jahre verändert haben.

Bei der Analyse wurden die Probanden in 3 Gruppen eingeteilt:

  • Mit hoher Proteinzufuhr (20 % und mehr),
  • Mit einer mittleren Proteinzufuhr (10-19 %) und
  • Mit einer niedrigen Proteinzufuhr (<10 %)

Dabei wurde eine positive Korrelation bei den 50-65-Jährigen zwischen einem höheren Proteinkonsum und Tod durch Diabetes festgestellt (75 % höheres Sterblichkeitsrisiko). Allerdings wurde keinerlei Zusammenhang festgestellt zwischen Proteinzufuhr und Tod durch KHK oder durch Krebs. Wie du oben sehen kannst, waren Koronare Herzkrankheiten (KHK) und Krebserkrankungen für 39 % der 40%-Mortalität verantwortlich.

Ein 75 % höheres relatives (!) Sterblichkeitsrisiko der 50-65 Jährigen mit der hohen vs.  niedrigen Proteinzufuhr hört sich dramatisch an. In Wirklichkeit stieg jedoch das Risiko lediglich von 0,1 % auf 0,17 % (absolut).

Ganz im Gegensatz dazu fanden die Forscher aber auch, dass über 65 das Sterblichkeitsrisiko (durch alle Ursachen!) mit einer höheren Proteinzufuhr sank.

Die IGF-1 Messung:

In ca. einem Drittel der Probanden wurden die  IGF-1 Spiegel gemessen (IGF-1 dt. Wikipedia). Je höher der IGF-1 Spiegel desto höher war die allgemeine Sterblichkeit – unabhängig vom Alter.

Das führt uns auch direkt zum Experiment in Mäusen.

Die Experimente an Mäusen

Im anderen Teil der Untersuchung wurden Mäuse auf eine Ernährung gesetzt, die mehr Protein enthielt (18 %) oder weniger Protein (4-7 %). Anschließend wurden ihnen Tumore eingepflanzt.

Nun hat man sich angeschaut, wie diese Tumore wachsen. In der Gruppe auf der proteinhaltigeren Ernährung wuchsen die Tumore viel als stärker, mit der proteinarmen Ernährung. Zudem hatten die Mäuse mit der höheren Proteinzufuhr einen höheren IGF-1 Spiegel.

Achtung: Die Mäuse haben keinen “neuen” Krebs entwickelt! Es wurde beobachtet, wie schnell der Tumor wuchs, nicht ob ein Tumor entsteht.

Also führt Protein doch über einen höheren IGF-1 Spiegel zu Krebs? Nicht so schnell!

Was ist problematisch an dieser Studie?

  • Wir finden einen Zusammenhang zwischen einem “wachstumsanregenden” Hormon (IGF-1) und Tumorwachstum. Das ist durchaus ein interessantes Ergebnis. Aber nur weil durch deine höhere Proteinzufuhr mehr IGF-1 ausgeschüttet wird, führt das nicht zu einem höheren Krebsrisiko für dich.Ein hoher Spiegel an IGF-1 fördert das Wachstum vieler Zellen. Bei Muskelzellen ist das erwünscht, bei Krebszellen eher nicht. Protein ist DER Baustoff für deinen Körper. Verständlich, dass jede Zelle davon profitiert.
  • Es wurde nicht für “gesunde Ernährung” kontrolliert. Obst und Gemüsezufuhr wurden gar nicht beachtet. Es wurde nur um die Zufuhr von Makronährstoffen berücksichtigt.
  • Es wurde nicht für Sport bzw. Bewegung kontrolliert.
  • Nur Menschen ab 50 bis 65. Damit ist keine Aussage möglich über jüngere oder ältere Menschen.
  • Unzureichende Differenzierung bei “tierischem Protein” – es wurde lediglich zwischen tierischem und pflanzlichem Protein unterschieden. Der Verarbeitungszustand des Proteins (Würstchen, angebranntes Steak oder gedünstete Hähnchenbrust) wurde nicht berücksichtigt.
  • Der Fokus auf nur einen Nährstoff – der Fokus auf nur einen Stoff ist eine extrem häufige Fehlerquelle in den Ernährungswissenschaften. Hier wird z. B. nur auf die Proteinzufuhr geschaut – d. h. welche Lebensmittel konkret. Wir essen aber Lebensmittel und keine abgewogenen Mikro- und Makronährstoffe. Wenn du z. B. Gluten oder fetthaltige Lebensmittel “weglässt” wirst du andere Lebensmittel verstärkt essen. Es gibt fast immer eine Substitution durch andere Stoffe. Damit ist es unmöglich zu sagen, ob das “Weglassen” oder die veränderte Zufuhr anderer Lebensmittel verantwortlich für die beobachteten Effekte war.

Das grundliegende Problem mit epidemiologischen Daten

Der Teil der Untersuchung am Menschen ist eine sogenannte “epidemiologische” Untersuchung. In der Epidemiologie (dt. Wikipedia) sucht man nach Zusammenhängen zwischen einzelnen Faktoren. Z. B. zwischen wahrgenommenem Stresslevel oder in diesem Fall Proteingehalt der Ernährung und Herzinfarkten. Das ist sehr sinnvoll um Zusammenhänge aufzuspüren, d. h. Hypothesen für weitere kontrollierte Studien zu generieren.

Damit findest du allerdings keine Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Du kannst ermitteln ob A und B zusammen auftreten (A + B). Aber du könntest nicht ermitteln ob “A” zu “B” führt (A>B) oder “B zu “A” führt (B>A). Es könnte auch einen unbeachteten Konfundierungseffekt “C” geben oder “A” und “B” treten nur zufälligerweise in deiner Untersuchung gleichzeitig auf.

Beispiel Zusammenhang vs. Ursache und Wirkung: Schlankere Leute trainieren in teureren Sportsachen.

Es besteht also ein Zusammenhang zwischen dem Körperfettanteil und dem Wert der Sportkleidung.

Ist die Sporthose die Ursache für das geringere Körpergewicht?

Würde man deshalb Leuten, die Abnehmen wollen zum Kauf eines teuren Sportschuhs raten?

Natürlich nicht! Hier wurde keine Ursache-Wirkungs-Beziehung gefunden.

Fazit: Was kannst du daraus lernen?

Du solltest keinesfalls deine Ernährungsgewohnheiten ändern, nur weil du von dieser Studie gelesen hast.

Die Behauptungen der Presse und der Forscher sind (wieder mal) absurd und tragen massiv zum schlechten Ruf des Wissenschaftsjournalismus bei. Statt Klarheit durch Daten zu schaffen, wird Verwirrung kreiert und Ängste geschürt.

Eine proteinhaltige Ernährung ist sehr gesund, sofern sie Gemüse und Obst enthält und du keine gesundheitlichen Probleme hast, die eine proteinhaltige Ernährung schwieriger machen oder behindern. (Nierenschäden oder Allergien gegen spezifische Lebensmittel. Aber dann ist dein behandelnder Arzt für dich zuständig.)

Derartige Untersuchungen sind aber nicht komplett wertlos, nur weil sie nicht perfekt sind. Forscher müssen mit den begrenzten Forschungsgeldern, bestehenden Daten und Ressourcen arbeiten. Selten kann man mit nahezu unbegrenzten Mitteln perfekt kontrollierte Untersuchungen durchführen.

Man muss sich die gesamte Evidenzlage (engl. “Body of Evidence”) anschauen, um herauszufinden, was wirklich im Körper geschieht. Eine einzelne Untersuchung ergibt fast nie ein komplettes, kohärentes Bild.

Wenn du in Zukunft ähnliche sensationelle Nachrichten liest, weißt du, dass du erst einmal ein paar skeptische Fragen stellen solltest, bevor du diese reißerischen Behauptungen annimmst.

  • War das eine kontrollierte Intervention oder handelt es sich um epidemiologische Daten?
  • War es Untersuchung im Menschen, in Versuchstieren oder in der Petrischale?
  • Falls es eine Untersuchung im Menschen war: War es eine Untersuchung an Menschen, wie dir? Wenn du jünger bist, dich von unverarbeiteten Lebensmitteln ernährst, gut schläfst und Sport treibst, wirst du kaum mit sehr alten, ungesund lebenden, chronisch Kranken zu vergleichen sein.